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Behavioral Economics: Wieso wir (doch) kein Homo oeconomicus sind

Manuel Schmidt
Homo Oeconomicus - als durch und durch ökonomisch orientiertes Wesen stellt er den Idealtyp des Menschen dar – zumindest in vielen Wirtschaftstheorien. Doch was ist mit unserer Intuition und Emotionen?

Wieso treffen wir trotzdem zahlreiche scheinbar unüberlegte Entscheidungen?

Behavioral Economics – zu Deutsch Verhaltensökonomik – versucht, mit Verhaltensmodellen Licht ins Dunkel zu bringen. Und: Du kannst die Erkenntnisse dieser Wirtschaftsdisziplin nutzen, um Deine Kund:innen auf dem Weg zu Entscheidungen zielführend zu unterstützen.

Behavioral Economics: Wirtschaftswissenschaften treffen Psychologie im Überblick

Inhaltsverzeichnis

Behavioral Economics ist ein Teilbereich der Wirtschaftswissenschaften. Während die Disziplinen der Makroökonomie (auch Nationalökonomie oder Volkswirtschaftlehre) und Mikroökonomie (Betrachtung einzelner wirtschaftlicher Subjekte) in verschiedenen Medien recht häufig genannt werden, ist die Verhaltensökonomie ein weniger beachtetes Feld. Das Besondere: Hier stehen vor allem Erkenntnisse aus psychologischen Theorien und Forschungen im Fokus. Das bringt nicht nur eine Revolution des Menschenbildes, sondern auch eine Revolution der Methoden mit sich: Durch Experimente und Befragungen versuchen Verhaltensökonomen, mehr über das menschliche Verhalten herauszufinden. Im Zentrum der Verhaltensökonomik steht die Entscheidungsfindung.

Mithilfe verschiedener Methoden ergründen Forscher, wie Menschen sich Meinungen bilden und Entscheidungen treffen. Das Menschenbild bei dieser Theoriebildung geht dabei weg vom Idealtyp des Homo oeconomicus. Hin zu einer realistischeren Einschätzung: Menschen machen Fehler und lassen sich bei Entscheidungen allzu oft von ihrem Bauchgefühl leiten. Für Wirtschaftler bedeutet das: Auf Basis der Erkenntnisse lassen sich Konzepte und Modelle entwickeln, die Entscheidungsprozesse (und Entscheidungsfehler) berücksichtigen.

Doch welche Relevanz hat das nun für das kundenzentrierte Arbeiten? Damit Du jedem Kunden und jeder Kundin eine individuell passende Vorgehensweise anbieten kannst, ist es wichtig, dass Du verstehst, wie Entscheidungssituationen ablaufen. So gelingt es Dir Services, Dienstleistungen und Produkte nicht nur auf die Wünsche, sondern auch nach den Entscheidungen Deiner Kunden auszurichten.

 

Entscheidungsverhalten als Herzstück der Verhaltensökonomik

Zu verstehen, wie Kund:innen beim Entscheidungsverhalten ticken, ist also ein wichtiger Schritt für eine produktive Zusammenarbeit. Einen grundlegenden Einblick in die Welt der Behavioral Economics bietet Dir die Entscheidungstheorie von Daniel Kahneman und seinem Forscherkollegen Amos Tversky. Im Jahr 2002 erhielt Kahneman für seine Forschungen sogar den Nobelpreis. In seinem Buch „Thinking, Fast and Slow“ geht er der Frage nach, warum wir uns in gewissen Situationen ohne nachzudenken entscheiden, während wir in anderen Fällen tagelang über die richtige Lösung grübeln.

Seine wichtigste Erkenntnis: Der Mensch scheint über zwei getrennte „Denk-Systeme“ zu verfügen.

System 1
ist gekennzeichnet von intuitiven Entscheidungen. Sie laufen oft automatisch ab und greifen auf vorangegangene Lernerfahrungen zurück. Diese Spontanität hilft oft, schnelle Urteile zu fällen – genauso schnell unterlaufen diesem System aber auch Fehler in der Reaktion auf die Anreize.

System 2
entspricht schon eher dem Menschenbild des Homo oeconomicus. Mit dem zweiten System denken Menschen kontrolliert und reflektiert nach. Sie betrachten Entscheidungen analytisch. Diese Zweiteilung führt zu einem völlig neuen ökonomischen Blick auf den Menschen.

Behavioral Economics: Biases und andere psychologische Besonderheiten

System 2 scheint geprägt von Rationalität. Doch warum handeln wir Menschen dann teilweise irrational? Vor allem in alltäglichen Situationen oder unter Zeitdruck übernimmt System 1 das Ruder – mit spannenden Folgen. Egal ob man ein Eis isst, obwohl man eigentlich Diät halten wollte oder das Geld lieber jetzt ausgibt, anstatt es zu sparen: Verantwortlich hierfür ist das intuitive System 1. In der Entscheidungstheorie dienen kognitiven Verzerrungen, die auch Biases genannt werden, als Erklärungsansatz.

Erkenntnisse aus der Psychologie: Heuristiken als Weg zum Ziel

Diese Faustregeln (Heuristiken) und die daraus resultierenden kognitiven Verzerrungen (Biases) haben unter anderem einen Einfluss darauf, wie risikofreudig Deine Kund:innen sind. Je nach Formulierung lassen sich gewisse Situationen sowohl als Gewinn, als auch als Verlust darstellen. Formulierst Du eine Entscheidungsmöglichkeit aus der Gewinnperspektive, tendiert die Mehrheit der Menschen dazu, sich für die risikoärmere Wahl zu entscheiden. Steht allerdings der Verlust im Fokus, sind die meisten Befragten eher bereit, ein höheres Risiko einzugehen, um diesen zu vermeiden.

Ein beispielhaftes Experiment zur Verdeutlichung:
Bei der ersten Entscheidung steht ein sicherer Gewinn von 250 Euro zur Wahl. Die Alternative ist eine 25-prozentige Chance, 1.000 Euro zu gewinnen und eine 75-prozentige Chance, nichts zu gewinnen. Die meisten entscheiden sich hier für die erste und sichere Variante.
Anders verhält es sich, wenn die erste Option ein sicherer Verlust von 750 € ist und sich alternativ die Chance bietet, zu 75 Prozent 1.000 Euro zu verlieren und nur zu 25 Prozent nichts zu verlieren.
Hier wählen Probanden bei der Befragung die risikoreichere letzte Option, in der Hoffnung, Verluste zu vermeiden.

Handelt es sich hier um Anomalien oder lässt sich dieses Muster mit psychologischen Theorien erklären? Vertreter der Behavioral Economics – wie Kahneman, Tversky und auch Richard Thaler – gehen in ihren Grundannahmen davon aus, dass Menschen aus reinem Eigennutz sichere Gewinne bevorzugen, während sie Verluste um jeden Preis vermeiden wollen – die Folge dieser Präferenzen sind häufig scheinbar irrationale Entscheidungen.

Die quälende Wahl: Choice Overload

Befragungen aus dem Bereich der Verhaltensökonomie zeichnen ein weiteres spannendes Bild ab: Sehen sich Menschen mit zu vielen Informationen und Wahlmöglichkeiten konfrontiert, übernimmt das irrationale System 1. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff „Choice Overload“ bekannt.

Das Zuviel an Entscheidungsfreiheit führt nicht nur dazu, dass jede einzelne Option nicht gründlich unter die Lupe genommen wird. Es kann sogar zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit führen, dass aufgrund der Komplexität am Ende gar keine Entscheidung fällt. Was heißt das nun für Dich und Dein Unternehmen? Möchtest Du mit Deinen Kunden  und Kundinnen verschiedene Handlungsoptionen besprechen, solltest Du vorab sinnvoll selektieren, welche Wahlmöglichkeiten bzw. Entscheidungsalternativen Du präsentierst. Unterstellt man diese Vereinfachungen, so hilfst Du ihnen, reflektierte Entscheidungen zu treffen.

Nudging: Verhaltensökonomik im Einsatz

Behavioral Economics beschäftigt sich nicht nur mit verschiedenen psychologischen Verhaltensmodellen und deren Relevanz für die Wirtschaftswissenschaften. Vielmehr geht es auch darum, wie genau diese Methoden im Kontakt mit Kund:innen zum Einsatz kommen können. Du kannst das Wissen nutzen, um Verhaltensmuster zu beeinflussen. Dieses Vorgehen beschreibt der Begriff Nudging (zu Deutsch: „Schubsen“).

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Gezielte Impulse setzen

Konkret geht es darum, gezielt Impulse zur Verfügung zu stellen. Diese lösen dann automatisch bestimmte Denkmuster bei Deinen Kund:innen aus. So lässt sich bei all der Irrationalität die Vorhersagekraft des menschlichen Verhaltens maximieren. Das bedeutet nicht, dass Du Deine Kundinnen und Kunden bei ihren Entscheidungsprozessen manipulierst. Sie bleiben denkende und handelnde Individuen. Dennoch kannst Du Dir diese Disziplin zu Nutzen machen, um zwischenmenschliche Beziehungen zu stärken und die Kommunikation voranzutreiben. Orientiere Dich dabei an den oben vorgestellten Präferenzen. Im Kontakt mit den Kunden ist es demnach wichtig:

– Impuls 1 – Verfügbarkeitsheuristik
Positive Fallbeispiele zu nennen, um die Verfügbarkeitsheuristik zu aktivieren

– Impuls 2 – Gegenwartsheuristik
Ziele nicht zu weit in der Zukunft festzulegen, um die Gegenwartsheuristik zu bedienen

– Impuls 3 – Ankerheuristik
Im Sinne der Ankerheuristik bei ersten Begegnungen einen positiven Eindruck zu hinterlassen

– Impuls 4 – Gewinne vor Verluste
Bei risikohaften Entscheidungen die Tendenz, Gewinne zu erhalten und Verluste zu vermeiden berücksichtigen

– Impuls 5 – Optionen minimieren
Bei Entscheidungen nicht zu viele (irrelevante) Handlungsoptionen vorzustellen

Verhaltensökonomik trifft auf Kundenzentrierung

Auf diese Weise gelingt es Dir, ökologische, psychologische wie auch wirtschaftsethische Interessen zu vereinen. Achte allerdings auf die richtige Dosis, wenn Du die Verhaltensökonomik beim kundenorientierten Arbeiten einsetzen möchtest. Ratgebende Impulse in die richtige Richtung können zu sinnvollen und zielführenden Entscheidungen führen. Betreibst Du die Methode des Nudging allerdings zu intensiv, könnten Deine Kund:innen das Gefühl erhalten, ferngesteuert zu werden und in Folge die Markttransparenz und Fairness infrage stellen.

Denke daran: Nur wenn Dein Kunde von Deinem Produkt oder Service profitiert, entsteht eine positive Kundenbeziehung. Es geht also nicht darum, ihm ganz egoistisch Deine eigene Meinung aufzudrängen. Vielmehr ist es das Ziel, begreifbar darzustellen, wieso die Entscheidung für A besser sein könnte als für B. Welche Option am Ende gewählt wird, liegt am Ende selbstverständlich in Kundenhand.

Mehr zu Kundenzentrierung und wie Du Dein Unternehmen mehr darauf ausrichten kannst erfährst Du in dem Artikel.

Behavioral Economics: Wirtschaftswissenschaften 2.0

Die Disziplin der Verhaltensökonomik bietet Dir eine neue und natürlichere Perspektive auf menschliches Verhalten, als es die Theorie des Homo oeconomicus tut. Dem rationalen und kalkulierbarem Verhalten wird ein ganz gewöhnlicher Mensch mit seinen Fehlern und Denkabkürzungen gegenübergestellt. Wichtige Erkenntnisse hierfür liefert vor allem die Entscheidungstheorie von Kahnemann und Tversky, mit der Annahme, dass das Gehirn über zwei verschiedene Denksysteme verfügt. Das intuitive System 1 übernimmt in vielen Situationen das Ruder und versucht mithilfe von Faustregeln und bestimmten kognitiven Annahmen ans Ziel zu gelangen. Das kann viel Zeit und Mühe sparen – dennoch können sich so auch systematische Fehler einschleichen.

Diese psychologischen Grundsätze zu verstehen, kann Dich bei Deinem kundenorientierten Arbeiten weiterbringen. Denn die Erkenntnisse verraten Dir nicht nur, wie Du zwischenmenschliche Kontakte positiv gestalten kannst. Vielmehr helfen sie Dir auch, Deine Kund:innen bei Entscheidungsprozessen zu unterstützen. So begebt ihr euch gemeinsam auf den Weg der Entscheidungsfindung.

Manuel Schmidt
Manuel Schmidt

MD tractionwise | Behavioral Data & UX